23. Februar 2023

“Das Curriculum für andere Sichtweisen öffnen”

Dr. Tanja Reiffenrath koordiniert an der Georg-August-Universität Göttingen die Internationalisierung der Curricula und hat zu diesem Thema auch schon verschiedene Publikationen veröffentlicht. Zuletzt erschien ein Beitrag von ihr im “Handbook of Open, Distance and Digital Education“, Thema: “International Partnerships and Curriculum Design” (Open Access). Im Interview mit uns berichtet sie, wie es zu der Einrichtung ihrer Stelle an der Uni Göttingen kam, was genau unter dem Begriff der “Internationalisierung der Curricula” zu verstehen ist und welche Erfahrungen die Lehrenden an Ihrer Hochschule bislang mit diesem Prozess gemacht haben.

Dr. Tanja Reiffenrath ist in der Abteilung Studium und Lehre an der Georg-August-Universität Göttingen tätig. (Bildquelle: privat)

Frau Reiffenrath, Sie sind an der Universität Göttingen verantwortlich für die Internationalisierung der Curricula, eine Position, die es so sicherlich nicht an allzu vielen Hochschulen in Deutschland gibt. Wie kam es zur Einrichtung dieser Stelle und wie ist sie an der Universität genau verortet?

Wir haben die Internationalisierung der Curricula im Herbst 2015 im Rahmen eines Pilotprojektes begonnen. Obwohl die Mobilitätszahlen an der Universität Göttingen mit ca. 30% Outgoings vergleichsweise hoch ausfielen, war auch klar, dass die überwiegende Mehrheit der Studierenden aus ganz unterschiedlichen Gründen keine internationale Erfahrung im Ausland machen würde. Die Idee war, möglichst allen Studierenden eine solche Erfahrung unabhängig vom Auslandsaufenthalt, also auf dem Campus zu Hause zu ermöglichen.

Im Projekt hat schon in der Konzeption die Zusammenarbeit mit den Fakultäten eine wichtige Rolle gespielt. Es war kein Top-down-Prozess, sondern wir konnten bottom-up viele Ideen unterstützen und gemeinsam auf Bedarfe der Studiengänge reagieren. Auch die Studierenden haben das Projekt unterstützt. So konnten wir durch zentrale Studienqualitätsmittel, also Mittel des Landes Niedersachsen, die der Verbesserung der Qualität der Lehre und der Studienbedingungen dienen, von 2016 bis 2021 zahlreiche Maßnahmen in den Studiengängen unterstützen, die Internationalisierung der Curricula und Digitalisierung mit einander verbinden. In dieser Zeit hat das Projekt auch Impulse für die strategische Weiterentwicklung der Lehre, zum Beispiel im Rahmen des Leitbildes für das Lehren und Lernen, gegeben.

Meine Position ist in der Abteilung Studium und Lehre, im Bereich der Lehrentwicklung verortet. Ich bin hier direkt in die Prozesse zur Weiterentwicklung oder Neueinrichtung von Studienangeboten eingebunden, der stetige Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus dem International Office der Uni Göttingen – Göttingen International – ist aber natürlich auch sehr wichtig für meine Tätigkeit. Als wir das Projekt 2015 begonnen haben, habe ich tatsächlich in Deutschland kaum Kolleginnen und Kollegen gefunden, die einen ähnlichen Tätigkeitsbereich hatten. Das hat sich mittlerweile geändert, denn Internationalisierung der Curricula bzw. zu Hause ist an vielen Hochschulen nun ein wichtiges Thema.

Was verstehen Sie genau unter der Internationalisierung der Curricula an der Uni Göttingen und wie kann man sich diesen Prozess konkret vorstellen? Gehen Sie gezielt auf bestimmte Fachbereiche oder Studiengänge zu oder wenden diese sich bei Interesse an Sie?

Wir folgen der Definition der Bildungswissenschaftlerin Betty Leask, die die Internationalisierung der Curricula als eine Integration von internationalen, interkulturellen und globalen Perspektiven in die Lehre beschreibt. Es geht nicht darum, zusätzliche Angebote zu schaffen, sondern das Curriculum für andere Sichtweisen zu öffnen und Studierenden eine Möglichkeit zum Perspektivwechsel zu geben. Je nach Fach wird dies ganz unterschiedlich gestaltet – für die Geisteswissenschaften spielt zum Beispiel der kritische Umgang mit einem westlich-geprägten Kanon eine wichtige Rolle, in den Natur- und Lebenswissenschaften liegt eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit an einer Forschungsfrage näher.

Ich unterstütze die Fakultäten in laufenden Prozessen bei der Weiterentwicklung der Lehre, es gibt aber auch immer viele Anlässe, um aktiv auf Studiengänge zuzugehen. Aus unserem Pilotprojekt haben wir viel gelernt und konnten diese Erkenntnisse in nachfolgende Drittmittelprojekte mitnehmen, zum Beispiel unser liveSciences³-Projekt im DAAD-Förderprogramm „Internationale Mobilität und Kooperation digital“ sowie zentral und dezentral beantragte Projekte, die im Rahmen des DAAD-Programms „International Virtual Academic Collaboration“ gefördert werden. Aktuell haben wir mit der europäischen Hochschulallianz ENLIGHT einen besonderen Kontext, in dem viele Lehrangebote weiter- oder neu entwickelt werden können, bei denen wir Lehrende mit Mitteln aus dem Begleitprogramm des DAAD unterstützen.

Sie haben auch Lehrende der Universität zu ihren Erfahrungen bei der Internationalisierung der Curricula befragt. Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Befunde dieser Befragung? Lassen sich die Befunde aus Ihrer Sicht auch auf andere Hochschulen übertragen?

Ein wichtiger positiver Befund war der Mehrwert, den die Lehrentwicklungsprojekte für die beteiligten Lehrenden hatten. Diese haben zum Beispiel angegeben, dass sie neue Perspektiven auf das Lehren und Lernen kennengelernt, neue internationale Kontakte geknüpft, das wissenschaftliche Methodenspektrum ihrer Lehre und die eigenen mediendidaktischen Kompetenzen erweitert haben. Gleichermaßen positiv schätzten die Lehrenden auch den Mehrwert von digitalen Lehrmaterialien mit anderen Perspektiven oder von virtuellem Austausch für ihre Studierenden ein.

Wir haben hier jedoch auch gesehen, dass fast alle am Projekt beteiligten Lehrenden es trotz der Projektförderung immer noch als herausfordernd empfanden, neben anderen Aufgaben Freiraum für die Durchführung ihrer Internationalisierungsinitiativen zu finden. Ich denke, dass diese Befunde sich auch auf andere Hochschulen übertragen lassen. Man merkt hier deutlich, dass es neben monetären Anreizen entsprechende Unterstützungsstrukturen, aber eben auch Zeit für Lehrinnovation, für das Experimentieren und Weiterentwickeln braucht. Hochschulübergreifende Lösungen zum Schaffen solcher Freiräume wären sicherlich sehr hilfreich und betreffen letztendlich nicht nur den Kontext der Internationalisierung.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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