20. März 2023

“Populistische Regierungen sind toxisch für die Wissenschaftsfreiheit”

Dr. Lars Pelke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. Dort ist er am Forschungsprojekt „Academic Freedom Index: An Innovative Resource for Research and for Protecting Freedom in the Academic Sector“ beteiligt, in dessen Rahmen einmal im Jahr die Wissenschaftsfreiheit weltweit vermessen und verglichen wird. Im Interview erläutert er, wie der aktuell fünfte Platz von Deutschland im AFI-Ranking zu verstehen ist, warum die USA und das Vereinigte Königreich hierbei so überraschend schlecht abschneiden und in welche Zusammenhänge sich zwischen Wissenschaftsfreiheit und Regierungswechseln beobachten lassen.

Dr. Lars Pelke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. (Bildquelle: PicturePeople Nürnberg)

Schauen wir zunächst auf die Länder mit den höchsten Bewertungen der Wissenschaftsfreiheit. Hier fällt aus deutscher Perspektive direkt ins Auge, dass Deutschland nun auf Platz fünf hinter Tschechien, Estland, Belgien und Italien liegt und nicht mehr auf Platz eins. Können Sie erklären, was die Gründe hierfür sind und wie eine solche Veränderung aus Ihrer Sicht zu bewerten ist?

Diese Interpretation der Academic Freedom Index-Daten ist ein Grund, warum wir diese Art des Rankings kritisch sehen. Diese Lesart übersieht nämlich, dass einerseits die fünf genannten Länder sehr eng beieinanderliegen, und dass andererseits die Messung und Interpretation von Wissenschaftsfreiheit mit einer gewissen Unsicherheit einhergeht. Ich möchte Ihnen anhand des Beispiels Deutschlands einige konkretere Beispiele geben. Deutschland ist im Vergleich zum Vorjahr nicht hinter Tschechien oder Estland zurückgefallen. Deutschland hat 2022 einen AFI-Wert von 0,96, Tschechien von 0,98 und Estland von 0,97. Diese Werte liegen also weniger als 0,02 Punkte auseinander – bei einer Skala von null bis eins. Zweitens überschneiden sich die sogenannten Unsicherheitsintervalle. Um das zu verstehen, müssen wir etwas tiefer einsteigen, ich fasse mich aber kurz.

Die 19 Länder mit den höchsten AFI-Werten im Jahr 2022. Schwarz sind die aktuellen Werte für 2022 dargestellt, grau sind die Werte für 2012 dargestellt. Die Linien rechts und links von den jeweiligen Punkten geben die Unsicherheitsintervalle zu den jeweiligen Messwerten wider. (Quelle: Academic Freedom Index Update 2023)

Wir erheben die AFI-Daten mit Hilfe von systematischen Expertenbefragungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Expertinnen und Experten sogenannte Biases haben. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Begriffsverständnisse oder auch systematische Verzerrungen der Informationen über ein Land. Das kommt in jeder Expertenbefragung vor. Die zentrale Frage ist, wie wir als Forschende damit umgehen. Damit diese Biases nicht dazu führen, dass Länder nicht mehr untereinander vergleichbar sind, muss das Messmodell diese systematischen Biases berücksichtigen. Für Deutschland haben zum Beispiel 31 Länderexpertinnen und -experten die fünf Fragen zur Wissenschaftsfreiheit beantwortet. Alle diese Expertinnen und Experten besitzen unterschiedliche fachliche Expertise, Erfahrungen und Blickwinkel auf die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland. Das sind jedoch keine systematischen Biases. Davon profitieren unsere Daten. Daraus ergibt sich aber auch eine gewisse Unsicherheit. Diese Unsicherheit bilden wir – vereinfacht gesagt – dadurch ab, dass wir neben AFI-Punktwerten auch Unsicherheitsintervalle berichten. Auf Deutschland übertragen bedeutet das: Die Wissenschaftsfreiheit liegt im Jahr 2022 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zwischen 0,93 und 0,98 auf unserer Skala von null bis eins. Wir sprechen uns nachdrücklich dafür aus, die AFI-Daten mit ihrer statistischen Unsicherheit zu lesen und zu interpretieren.

Inhaltlich sehe ich keinen Grund, warum Deutschland 2022 hinter den genannten Ländern liegt. Was wir aber in den Daten erkennen können ist, dass die institutionelle Autonomie der Hochschulen geringfügig schlechter bewertet worden ist als 2021. Aber auch hier gilt es, die Unsicherheit zu beachten, sprich: statistisch belastbar ist das nicht. Möglicherweise handelt es auch einfach nur um statistisches Rauschen, das man deshalb nicht überinterpretieren sollte. Bei anderen Ländern, zum Beispiel beim Vereinigten Königreich und den USA, gibt es hingegen über die letzten zehn Jahre hinweg statistisch signifikante Rückgänge der AFI-Werte, die in unseren Berichten daher auch immer gesondert hervorgehoben werden.

Das Vereinigte Königreich und die USA zählen nicht nur zu den Ländern, in denen laut AFI die Wissenschaftsfreiheit in den letzten zehn Jahren besonders stark abgenommen hat, beide Länder liegen in der AFI-Rangliste auch überraschend weit hinten, das Vereinigte Königreich auf Platz 61 und die USA auf Platz 76. Können Sie uns erklären, wie sich die vergleichsweise schlechten Gesamtwerte beider Länder erklären lassen und in welchen Bereichen eine niedrigere Wissenschaftsfreiheit sichtbar wird?

In der Tat wird es einige überraschen, diese zwei führenden Wissenschaftsnationen hinter Ländern wie Honduras, Chile oder Burkina Faso zu finden. Uns überrascht das nicht. Wissenschaftlicher Output, bei dem die USA und das Vereinigte Königreich zu den führenden Ländern gehören, korreliert zwar mit Wissenschaftsfreiheit, ist aber ein gänzlich anderes Konzept. Bevor wir uns aber die Ursachen des Rückgangs der Wissenschaftsfreiheit in beiden Ländern anschauen, muss ich etwas vorwegsagen: Wir als AFI-Team sind keine ausgewiesenen Länderexperten und -expertinnen für die USA oder das Vereinigte Königreich. In unserem Update 2023 haben wir zwar versucht, den Rückgang der Wissenschaftsfreiheit in den USA zu interpretieren. Das kann aber nur ein Anfang sein. Für eine detaillierte Erklärung sollten ausgewiesene Länderexpertinnen und -experten hinzugezogen werden. Das gilt für die USA, das Vereinigte Königreich, aber auch jedes andere Land. Für das Verständnis der Entwicklungen bei der Wissenschaftsfreiheit gilt: Profitieren wir von lokaler Expertise und unterschiedlichen Blickwinkeln!

So verteilt sich die Wissenschaftsfreiheit weltweit. Die höchsten AFI-Werte sind dunkelblau dargestellt (z.B. Deutschland), die niedrigsten Werte dunkelrot (z.B. China). (Quelle: Academic Freedom Index Update 2023)

Zurück zu den USA und dem Vereinigten Königreich: Die Wissenschaftsfreiheit in den USA ist seit 2021 unter starkem Druck geraten. Also in dem Jahr, nachdem der populistische Präsident Trump aus dem Amt gewählt wurde. Während Trumps Präsidentschaft wurden zwar schon einige Gesetze und Verordnungen auf Bundesebene erlassen, die sich negativ auf die Wissenschaftsfreiheit ausgewirkt haben. Nach der Machtübergabe an Präsident Biden haben dann aber auch einige Bundesstaaten, vor allem neun republikanisch regierte Staaten, stark in die Wissenschaftsfreiheit eingegriffen. Denn Bildungspolitik liegt, ähnlich wie in Deutschland, v.a. in der Verantwortung der Bundesstaaten. So wurde beispielsweise die Finanzierung von Gender, Minderheitenforschung und Umweltwissenschaften stark beschränkt oder die Lehre von Konzepten der „critical race theory“ an Hochschuleinrichtungen verboten. Das ist ganz klar ein politischer Eingriff in die Lehr- und Forschungsfreiheit. Insgesamt bleibt die Wissenschaftsfreiheit in den USA aber trotzdem noch auf relativ hohem Niveau.

Im Vereinigten Königreich, das wir in unserem Bericht nicht detaillierter betrachtet haben, kann ich nur eine gröbere Erklärung bieten: Zwar gab es in den letzten Jahren Einschränkungen in der Campus-Integrität – das ist die Abwesenheit von Überwachung auf dem Campus – und dem Recht, sich als Vertreterin bzw. Vertreter der Wissenschaft frei zu äußern und politische Entwicklungen zu kommentieren, aber insgesamt bleibt auch die Wissenschaftsfreiheit im Vereinigten Königreich auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Als Probleme werden von Expertinnen und Experten neben der zunehmenden Ökonomisierung auch die Arbeitsbedingungen an Universitäten genannt. Nicht ganz zufällig gibt es an den britischen Hochschulen ja schon seit Monaten immer wieder Streiks der Hochschulbeschäftigten, die damit für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne kämpfen.

Sie haben im diesjährigen AFI-Bericht auch einen genaueren Blick auf einzelne Länder geworfen und die Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit dort auch in Beziehung zu Regierungswechseln gesetzt. Was sind hier aus Ihrer Sicht die wichtigsten Befunde?

Der wichtigste Befund ist, dass Wissenschaftsfreiheit aus der Wissenschafts-Community heraus, aber auch von Regierungen, verteidigt und gelebt werden muss. Ich möchte Ihnen das gerne etwas detaillierter erläutern. Im autokratischen China gibt es keinerlei Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber der Öffentlichkeit. Hier kam es mit der Machtübernahme von Xi Jinping zu noch stärkeren Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit. In Indien ist der Rückgang der Wissenschaftsfreiheit eng mit der Regierung Modi und seiner hindu-nationalistischen Politik sowie der schleichenden Erosion der Demokratie verknüpft.

So hat sich die Wissenschaftsfreiheit in China, Indien, USA und Mexiko zwischen dem Jahr 2000 und heute entwickelt. Man sieht teilweise deutlich den Effekt der eingezeichneten Regierungswechsel.

Die Mechanismen, welche in den USA am Werk sind, habe ich ja gerade schon erläutert. In Mexiko ist der Rückgang der Wissenschaftsfreiheit mit der populistischen Regierung von López Obrador verbunden. Unter seiner Präsidentschaft wurde unter anderem die institutionelle Autonomie durch Beschränkungen in der Finanzierung der Universitäten eingeschränkt.

Insgesamt zeigt sich, dass populistische Regierungen toxisch für die Wissenschaftsfreiheit sind, vor allem dort, wo auch die Demokratie in Gefahr ist. Das sollte uns Sorgen machen. Denn wie die Auswertungen unseres Partnerinstituts V-Dem in Göteborg zeigen, ist die Demokratie in der letzten Dekade weltweit einem erheblichen Stresstest unterworfen. Aber die Wissenschaftsfreiheit kann von uns allen verteidigt werden. Das bedarf jedoch stetiger Anstrengung und ausdauernden Engagements.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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