6. Juni 2025

“Die größte Krise seit der Gründung von Harvard”

Michael Gritzbach ist Masterstudent in Harvard (Studiengang: Master of Public Administration) und dort auch gewähltes Mitglied im Kennedy School Student Government sowie Vorstand der German American Conference, die sich für den transatlantischen Austausch zwischen Deutschland und den USA einsetzt. Im Interview erläutert er, warum das Studierendenparlament in Harvard gerade jetzt so wichtig ist, wie sich die aktuelle Situation der internationalen Studierenden dort darstellt und was aus seiner Sicht vom Vorwurf der aktuellen US-Regierung zu halten ist, die Universitätsleitung von Harvard sei nicht ausreichend gegen antisemitische Proteste auf dem Campus vorgegangen. Aktuell befindet sich Michael Gritzbach für ein Praktikum in Deutschland, ob er zum Wintersemester wieder in die USA einreisen kann, ist derzeit aufgrund der unvorhersehbaren politischen und juristischen Entwicklungen unklar. Der DAAD hat nun auch ein neues Online-Informationsangebot zur Beratung von Studierenden und Forschenden in den USA bzw. auf dem Weg dorthin gestartet.

Michael Gritzbach ist Masterstudent in Harvard (Studiengang: Master of Public Administration) und dort auch gewähltes Mitglied im Kennedy School Student Government sowie Vorstand der German American Conference, die sich für den transatlantischen Austausch zwischen Deutschland und den USA einsetzt. (Bildquelle: Fynntastic)

Lieber Herr Gritzbach, Sie sind Mitglied im Studierendenparlament der Kennedy School in Harvard. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern erst einmal kurz schildern, was die Aufgaben dieses Studierendenparlaments sind und wie viel Einfluss dieses auf die strategischen Entscheidungen der Universität hat?

In Deutschland denkt man vielleicht an Flyer und Semestertickets. In Harvard geht es weiter. Wir vertreten insgesamt mehrere tausend Studierende der Graduate Schools, also beispielsweise Law, Business, Medical und Kennedy School. Wir helfen der Universitätsleitung, das Harvard von morgen aus Studierendensicht mitzuentwickeln, setzen uns aber auch für aktuelle Anliegen der Studierenden ein. Was wir aber vor allem machen: Wir übersetzen – zwischen Studierenden und Verwaltung, Realität und Regelwerk.

Gerade jetzt, mit Trumps Attacken, zeigt sich, wie wichtig diese Rolle ist. Die Universität alleine könnte so kurzfristig gar nicht alle Studierendenanfragen zur Visa-Situation beantworten. Wir sammeln daher Informationen, vermitteln Kontakte und geben Updates zu Entwicklungen, sowohl unter den Studentinnen und Studenten, als auch aus Leitungssicht. So helfen wir der Universität, sich auf die kritischsten Fälle zu konzentrieren.

Harvard steht derzeit stark im Fokus der aktuellen US-Regierung, aktuell versucht diese, Harvard das Recht zu entziehen, internationale Studierende und Promovierende einzuschreiben. Wie erleben Sie als deutscher Student in Harvard die aktuelle Stimmung unter den internationalen Studierenden? Sind die Studierenden zuversichtlich, dass sich Harvard vor Gericht gegen die US-Regierung durchsetzen wird oder planen viele schon für den Fall, dass sie tatsächlich nicht mehr in Harvard weiter studieren können?

Als die Nachricht kam, dass Harvard das Recht verlieren könnte, internationale Studierende aufzunehmen, war ich in Deutschland. Nach einem Abend mit der Familie war mein Handy auf einmal voller Nachrichten von Freunden. Plötzlich war unklar, ob wir – die internationalen Studierenden und Promovierenden in Harvard – im kommenden Herbst zum Semesterstart wieder einreisen dürfen, falls wir uns derzeit – wie ich – außerhalb der USA aufhalten. Ob unser Studium überhaupt noch rechtlich abgesichert ist. Und damit, ob wir – ganz banal – beispielsweise unsere Wohnung in Cambridge weiter benötigen.

Für viele steht der Zukunftsplan auf dem Spiel – Stipendium, Aufenthalt, Berufseinstieg. Gleichzeitig sind es genau solche Momente, die uns an diese Uni geführt haben. Um Verantwortung zu übernehmen. Um Demokratie zu verteidigen. Viele denken über Alternativen nach – Kanada, Europa, Asien. Andere hoffen, dass Harvard vor Gericht gewinnt. Und manche tun einfach das Naheliegendste: abwarten und weitermachen.

Ich bin überzeugt, dass wir gerade Geschichte erleben – nicht nur als Beobachter. Hochschulverantwortliche nennen die Lage die größte existenzielle Krise seit der Gründung von Harvard. Es ist ein Angriff auf Wissenschaftsfreiheit und Rechtsstaat.

Offizielle Grundlage für die Maßnahmen der US-Regierung gegen die Harvard University ist v.a. der Vorwurf, nicht ausreichend gegen antisemitische Proteste auf dem Campus vorgegangen zu sein. Wie haben Sie die Entwicklung seit dem Oktober 2023 auf dem Campus miterlebt? Und wie würden Sie die aktuelle Situation einschätzen?

Seit dem Hamas-Angriff auf Israel im Oktober 2023 war die Lage angespannt. Es gab Proteste, harte Debatten – und leider auch Grenzüberschreitungen. Juden wie Muslime fühlten sich zunehmend unter Druck. Das Doxing von Demonstrierenden – also die Veröffentlichung von persönlichen Daten – sorgten für zusätzliche Unsicherheit.

Aber es hat sich viel bewegt. Unter dem neuen Präsidenten Alan Garber – selbst jüdisch – wurden die Sorgen ernst genommen. Studierende wurden einbezogen. Formate wie die „Candid Conversations“ fördern den Austausch. Viele schätzen, dass Harvard nun handelt. Es hat gedauert, aber die Richtung stimmt. Klar ist auch: Es gibt kein Patentrezept, keine schnelle Heilung. Vertrauen wieder aufzubauen braucht Zeit.

Ich hätte nie gedacht, mitten im Studium juristische Gutachten lesen zu müssen, um herauszufinden, ob ich legal einreisen darf. Oder mit Universitätsleitungen über Krisenkommunikation und rechtliche Grauzonen zu sprechen. Aber genau das tue ich jetzt.

Klar wird, dass internationale Bildung keine Selbstverständlichkeit ist – nicht einmal in Harvard. Sie hat Feinde und ist angreifbar. Daher braucht sie Schutz. Und sie lebt davon, dass Menschen aus den USA mit Menschen aus Ghana, Brasilien, Israel oder China zusammenkommen und diskutieren dürfen. Denn nur, wenn wir Menschen mit anderen Ansichten treffen, können wir unsere eigenen hinterfragen und weiterentwickeln.

Ich habe den Covid-Ausbruch in Peking als Yenching-Stipendiat erlebt, den Brexit in London. Nun Harvard. Ich hoffe, dass wir auch diese Zeit als Wendepunkt begreifen. Nicht, weil danach alles direkt besser wird – sondern, weil wir erkennen müssen, was auf dem Spiel steht. Nicht weniger als die freie westliche Gesellschaft und Demokratie.

Bis dahin versuche ich, zuzuhören, zu vermitteln, Verantwortung zu übernehmen. Und ein bisschen Hoffnung zu machen. Denn, wenn wir in Europa daraus lernen, liegt hier eine einmalige Chance. Es wäre an der Zeit, den Anspruch, Hort von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu sein, endlich selbstbewusst zu vertreten.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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